Sieht er mich, oder sieht er mich nicht?

Diese Frage habe ich mir in meiner kurzen Ruderkarriere schon des Öfteren gestellt. Warum fährt der denn jetzt da? Da fährt er doch sonst nicht! Müssen die sich auch noch gegenseitig überholen? Wo sollen wir denn dann noch hin? Ui, das war aber knapp, ob der uns überhaupt gesehen hat? Beruhig Dich, ist doch noch massig Platz, warum hupst Du denn gleich?

Wer kennt diese Fragen nicht! Aber kennt Ihr auch alle die Antworten?

Was erst nur eine Idee war, wurde Ende August Wirklichkeit. Patrik und ich hatten die Möglichkeit, auf dem Gütermotorschiff (GMS) Ralf-Dieter der Mainschifffahrts-Genossenschaft (MSG) genau diese Fragen zu stellen. Und zwar Ralf, dem Partikulier der Ralf-Dieter, einem Schiffmann durch und durch. Morgens um 7:00 Uhr wurden wir in Bingen an Bord genommen und durch Conny, Justin (Ralf’s Frau und Sohn) sowie die beiden Dackel Moritz und Idefix begrüßt. Sie brachten uns hoch ins Führerhaus (Ruderhaus, auf die Brücke). Da saß er, Ralf, den Joystick im Griff und den Rhein fest im Blick. Dass er uns Wassersportler alle über einen Kamm schert und nicht sonderlich mag, bekamen wir umgehend zu spüren, denn wir „Paddler“ haben nix in der Fahrrinne zu suchen. „Macht Euch da einfach weg. Ihr geht ja schließlich auch nicht auf der Autobahn spazieren“, bekamen wir zur Begrüßung um die Ohren gehauen. Na, das geht ja gut los. Das Wetter war ohnehin schon bescheiden genug, so würde der Tag vermutlich auch recht bescheiden werden. Ich war allerdings von Herrn Füßl , einem der Vorstände der MSG, schon vorgewarnt, dass er zuweilen etwas ruppig sein kann, aber eigentlich ein ganz Lieber ist. Ich kann schon mal vorwegnehmen, dass er uns am Ende tatsächlich „Ruderer“ nannte und versöhnlich meinte „macht Euch bemerkbar, ich will Euch einfach nur sehen“.

Aber der Reihe nach.

Die Ralf-Dieter ist ein knapp 50 Jahre altes Frachtschiff von 105 m Länge und 10,5 m Breite, das aktuell Drahtrollen geladen hatte und diese von Kehl am Oberrhein nach Lübbecke am Mittellandkanal bringen sollte. Ein solches Schiff fährt nicht wie viele meinen mit Schweröl, sondern mit reinstem Diesel (annähernd schwefelfrei, soviel zum Thema Umweltbilanz) und hat einen 1600 PS starken Caterpillar Motor. Es entlastet die Straße in diesem Fall um 69 LKW und könnte sogar um bis zu 100 LKW entlasten je nach Ladung. Die maximale Tonnage beträgt 2473 t und der maximale Tiefgang 3,16 m. Die Ralf-Dieter ist ein reiner Familienbetrieb und ist täglich ca. 14 Stunden unterwegs.

Wir wollten als erstes wissen, welchen „Bremsweg“ ein solches Schiff hat. Bis die Maschine vollständig stoppt vergehen ca. 200 m, wobei die Strömung in der Talfahrt einen vollständigen Stopp verhindert. Diese 200 m sind für Ralf auch das absolute Minimum an Abstand, den wir von ihm / einem solchen Schiff halten sollten. Zur besseren Orientierung, der Abstand von Tonne zu Tonne beläuft sich in der Regel auf 400 m, so dass der Mindestabstand also etwa dem halben Tonnenabstand entsprechen sollte. Sein toter Winkel beträgt nämlich ca. 150 m, auf dem Kanal kann es sogar teilweise bis zu 1000 m sein, da er das Führerhaus wegen der Brücken komplett herunterfahren muss. Aber der Abstand ist nicht zwingend ein Garant dafür, dass er uns auch tatsächlich sieht. Auf dem Radar sind wir so gut wie nicht zu erkennen und könnten genauso gut Treibgut oder ein Fehlecho sein. Bei tiefstehender Sonne ist die Reflektion so stark, dass er uns nicht sieht und bei dem herrlichen Wetter an diesem Sonntag, Nebel und Sprühregen, sieht er uns, wenn überhaupt erst verdammt spät. Daher auch seine Bitte „macht Euch bemerkbar, ich will Euch einfach nur sehen“. Neonfarbene Kleidung, Reflektoren, Warnwesten, Positionsleuchten, Radarschirmchen um nur ein paar Beispiele zu nennen, wären da geeignet. Wir mussten recht lange warte, bis wir feststellen konnten, dass er ganz und gar nicht übertreibt. Leider waren lediglich 3 Ruderboote an diesem Tag unterwegs, alle Mannschaften dunkel gekleidet. Auf dem Radar war ab und an ein Signal zu sehen, aber so schnell wie es da war, war es auch wieder weg. Selbst der Sichtkontakt war mehr als dürftig. Wir können ihn also absolut verstehen.

Auf welcher Fahrrinnenseite der „Autobahn“ Rhein ein Schiff zu fahren hat, wollten wir als nächstes wissen. Dass man sich nicht zwingend darauf verlassen kann, dass ein Bergfahrer immer die Innenkurve wählt (geringere Strömung) und ein Talfahrer die Strommitte mit Tendenz zur Außenkurve (Stromstrich) liegt oft am Wasserstand. Es wird nicht zwangsläufig immer in der Fahrrinne gefahren. Referenzwert für Ralf ist der Pegel Kaub. Man nimmt den Pegelstand in Kaub zzgl. 1 m (Pegel Koblenz zzgl. 1,30 m) und erhält die Fahrrinnentiefe und damit die maximale Abladetiefe des Schiffes. Je höher der Pegel in Kaub, desto weiter kann unter Land und damit auch außerhalb der Fahrrinne  gefahren werden. Ist der Pegel so niedrig wie Ende August (1,10 m), wird meist in der Fahrrinnenmitte gefahren. Die Ladung verteilt sich bei Niedrigwasser auch auf mehr Schiffe als üblich, was, man mag es nicht glauben, sogar mehr Geld für die Fracht bedeutet. Ab einem Pegel in Kaub von 0,80 m wird es für die Schifffahrt kritisch.

Üblicher Weise begegnen sich die Schiffe immer Backbord (rot) an Backbord, wobei der Talfahrer an der rechten Seite der Fahrrinne zu fahren hat. Ein regelrechtes Rechtsfahrgebot gilt z.B. auf der Gebirgsstrecke (Rheinkilomter 540,2 bis 556 ) und ab Duisburg bis zur holländischen Grenze. Hier darf die imaginäre Mittellinie nicht überschritten werden. Der Bergfahrer kann auf allen anderen Strecken die Form der Begegnung bestimmen und somit auch Steuerbord (grün) an Steuerbord vorbeifahren. Ob dies der Fall ist, erkennt man daran, ob die blaue Tafel (tagsüber) bzw. das Funkellicht (nachts) auf Steuerbord gesetzt ist oder nicht. Ist die blaue Tafel gesetzt, bedeutet dies, eine Begegnung auf Steuerbord. Dies ist für den Schiffsführer bereits früh durch eine entsprechende Markierung auf dem Radar zu sehen.

Für den Schiffsführer ist es immens wichtig, dass unser Kurs früh und eindeutig erkennbar ist (Stichwort Kurshaltepflicht). Daher sollten wir umgekehrt aber auch deren Signale entsprechend deuten können.

Betrachtet man sich einen Fluss wie den Rhein, geht man zunächst einmal davon aus, dass sich die Strömung immer talwärts verhält, also bergab läuft. Dies ist aber nicht überall der Fall. Auf der Gebirgsstrecke , Höhe Unkel (Hinkelsteine) und hinter Köln zum Beispiel läuft die Strömung bergwärts. Hier ist besondere Vorsicht geboten und die Strömung entsprechend einzuschätzen.

Womit wir gleich bei einem guten Stichwort sind. Aus dem Nichts stellte Ralf plötzlich die Frage “stellt Euch vor, Ihr geht genau hier über Bord (Rheinkilometer 594/595 Höhe Wallersheim – Niederwerth), wo schwimmt Ihr hin?“  Wie aus der Pistole geschossen antwortete Patrik nach Steuerbord (Niederwerth), während ich es etwas langsamer angehen ließ und mich nach einiger Überlegung für Backbord entschied.  Womit ich im übrigen (eher zufällig) richtig lag. Was wollte er mit dieser Frage bezwecken? Dass wir uns in einem solchen hoffentlich nie eintretenden Fall, Zeit nehmen, uns Umschauen und nicht einfach drauf los schwimmen. Gegen die Strömung zu schwimmen ist logischer Weise keine Option. Mit der Strömung möglichst den kürzesten Weg. Hier hätte Patrik also richtig gelegen, aber da in der Innenkurve weniger Strömung ist, hatte ich die richtige Lösung. Ralf war zudem davon ausgegangen, dass Niederwerth nicht bewohnt ist und man daher die Wallersheimer Seite hätte favorisieren sollen. Wie die Strömung fließt, erkennt man übrigens gut an den Tonnen. Theoretisch zumindest, wenn man nicht quasi mit ihnen auf Augenhöhe ist wie wir im Ruderboot. Aus dem Führerhaus kann man es tatsächlich recht gut erkennen. Auch das was man zwar als Ruderer wissen sollte, aber nicht zwingend immer sieht, dass in der Innenkurve (Gleithang) geringere Strömung herrscht und es meist flacher ist, als in der Außenkurve (Prallhang).

Wenn nichts außergewöhnliches zu erkennen ist, wird üblicher Weise mit einer Fahrunterstützung gefahren. Hier wird dem Schiff ein quasi idealer Kurs vorgeben, auch „fahren mit Null“ genannt. Wenn ein Bergfahrer aber z.B. die Steuerbordbegegnung fordert, wird die Null verlassen, das bedeutet mittels Joystick wird der Kurs entsprechend angepasst. Nach der Erpler Lay hat Ralf für uns bewusst die Fahrunterstützung ausgestellt, um uns zu zeigen, wie träge ein solches Schiff reagiert. Er hat den Kurs beibehalten und fuhr daher genau auf die Unkler Steine zu. Erst im letzten Moment hat er den Kurs korrigiert. Da wurde uns nochmals bewusst, wie wichtig es ist, dass wir gesehen werden und wenn wir uns für einen Kurs entscheiden, dann auch dabei bleiben. Man hat Ralf die Anspannung ausnahmsweise auch selbst angemerkt, auch wenn er die Situation souverän gemeistert hat. Wir waren trotzdem heil froh, als wir wieder „die Null“ erreicht hatten.

Kurz darauf die nächste Herausforderung. Berg- und Talfahrer beide am Rand bzw. außerhalb der Fahrrinne. Wir sollen aber ja auch nach Möglichkeit außerhalb der Fahrrinne fahren. Nur war da ja bereits „besetzt“ bzw. der Wellenschlag für ein Ruderboot entsprechend unangenehm oder durch Steine/Kribben „verbaut“. Jetzt konnten wir den Spieß mal rumdrehen und ihn fragen „wo sollen wir denn jetzt hin“? Man mag es kaum glauben, aber die Antwort war „am besten mittendurch. Hier ist es für Euch am ungefährlichsten in der Fahrrinne zwischen den Schiffen“. Hören wir da etwa so etwas wie Verständnis? So langsam realisiert auch der harte Knochen, dass wir wissen, was wir tun. Untermauert haben wir dies, in dem wir ihm erläutert haben, dass es bei Rudervereinen am Rhein eine Ausbildung zum Obmann bzw. Bootsführer gibt und nicht jeder Hinz und Kunz einfach so ein Boot führen darf. Dass uns dies von den nicht in Vereinen organisierten Wassersportlern, den sogenannten  „Paddlern“, unterscheidet und wir damit vermutlich so manch einem Freizeitkapitän einiges voraus haben. Dass er zudem Sportboote und Jetskis nicht sonderlich mag, brauche ich vermutlich nicht extra zu erwähnen, zumal wir da quasi eine Gemeinsamkeit entdeckt hatten. So langsam kamen wir auf die Ebene „Ihr Ruderer“ und wir waren uns alle einig, dass es sowohl für den Schiffsführer wichtig ist, mal den Blickwinkel „Ruderboot“ zu haben, als auch für uns Ruderer die Sichtweise des Schiffsführers zu verstehen. Und so entstand das fantastische Angebot, und glaub uns Ralf, wir nehmen Dich beim Wort, mindestens unsere angehenden Steuerleute einmal mitzunehmen und auch, so es bei ihm bzw. von der Strecke her passt, das gleiche den alten Hasen zu ermöglichen. Unserem erklärten Ziel für gegenseitiges Verständnis zu werben und gegenseitige Rücksichtnahme zu erbitten, waren wir damit ein riesen Stück näher gekommen.

Wer hätte um 7 Uhr gedacht, dass wir uns um 19 Uhr abends in Köln-Niehl herzlich umarmen und mit den Worten „bis bald“ verabschieden würden.

Für uns ging ein spannender, ereignis- und lehrreicher Tag zu Ende. Es war eine 12 stündige Tour auf unserem erweiterten Ruderrevier, bei der alles dabei war, von der Gebiergsstrecke bis zur Deutzer Platte. Sogar minge Dom hab ich vom Wasser aus gesehen. Es bleibt vorerst nur „Danke“ zu sagen. Danke, dass wir einmal hinter die Kulissen blicken und für einen Tag in das Leben an Bord eintauchen durften. Danke auch an Conny für das leckre Mittagessen.

Wir kommen wieder … keine Frage!

 

Corinna Schneider

 

PS.: Mittlerweile wissen wohl auch alle Hausbewohner, dass wir Freunde auf dem Rhein haben. Zu überhören ist Ralf jedenfalls nicht, wenn er bei uns vorbeifährt, denn er gibt lautstark Signal. Auch ansonsten konnten wir bislang tollen Kontakt halten. Und bei der ersten Begegnung auf dem Wasser Höhe Linz wurden wir winkend begrüßt statt aus der Fahrrinne gehupt zu werden.